Die unhintergehbare Verflechtung aller Leben

Ilse Henin, Keltie Ferris, Hayv Kahraman, Gisela McDaniel, Soraya Sharghi, Emma Talbot
24. June 2023 — 17. September 2023
Kunsthalle Düsseldorf

Curated by Alicia Holthausen & Gregor Jansen

Die späten 1960er-Jahre waren in Westdeutschland eine bedeutsame Zeit der politischen und sozialen Unruhen, der künstlerischen Solidarität und des Experimentierens, oft verbunden mit antikapitalistischer Kritik. Für Ilse Henin, die in jenen Jahren studierte, war es eine prägende Zeit. In den späten 1970er-Jahren nahm sie jedoch eine Auszeit von der Kunst, da sie diese – wie viele ihrer Kolleginnen – als zu stark von Männern dominiert empfand, kehrte in den 1980er-Jahren wieder zur künstlerischen Arbeit zurück und wahrte dabei einen bewussten Abstand von der Kunstwelt. Es erschien ihr dabei stets notwendig, innerhalb der Gesellschaft eine künstlerische wie auch soziale Gegenkultur zu schaffen und aus der Position der Außenseiterin heraus kontinuierlich ein Werk zu entwickeln, das auf sehr persönliche Weise ihr Abbild der Gesellschaft zeigt und eine psycho-analytische Sicht auf unterschiedliche kulturelle Ausprägungen vornimmt.

Von den Werken Ilse Henins ausgehend, wird in der Ausstellung ein Netz zu den fünf jüngeren, zeitgenössischen Positionen geflochten. Die Arbeiten von Keltie Ferris (*1977 in Louisville/USA), Ilse Henin (*1944 in Köln/DE), Hayv Kahraman (*1981 in Bagdad/IRQ), Gisela McDaniel (*1995 in Nebraska/USA), Soraya Sharghi (*1988 in Teheran/IRN) und Emma Talbot (*1969 in London) eint die Verflechtung von vermeintlich klassischen, als weiblich gelesenen Motiven, sie alle haben sie jedoch zu völlig unterschiedlichen Sujets weiterentwickelt.
„Das Weibliche“ als Motiv wird in einen zeitgenössischen Kontext gerückt. Die Frau ist nicht mehr schönes Beiwerk oder Projektionsfläche des male gaze, sondern Hauptfigur und Identitätsträgerin des Werks. Frauen, als Einzelfiguren, in Gruppen oder als Teil einer Familie oder eines Volksstamms, stehen für sich selbst ein und für alle, die sie repräsentieren. Sie sind starke, selbstbestimmte und sich ihrer Position bewusste Heroinnen einer neuen Erzählung von Femininität. Gleichzeitig werden klassische Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit hinterfragt.
Auch bisweilen als „weiblich“ oder „feminin“ gelesene Materialien und Techniken, wie Stoff, Perlen, Garn bzw. Nähen, Sticken, Collage, werden aufgegriffen und in einen zeitgenössischen Zusammenhang gesetzt. Diese, lange Zeit als Kunsthandwerk oder Dekoratives degradierten, Ästhetiken werden laut und überbordend und mit expressiver und impulsiver Farbigkeit in geradezu poppiger Weise genutzt.

Die Werke der sechs Künstler*innen zeigen somit eine Prozessualität auf, die die Betrachter*innen aus den 1960er-Jahren bis heute, von Malerei, über Zeichnung zu Skulptur und Installation, von Feminität über Maskulinität zu Diversität führt. Vor allem ist es aber ein Prozess zur Stärkung, zum Empowerment. In den Werken selbst, aber auch in ihrer Zusammenstellung bilden sich Gruppen, Zusammenschlüsse und Prozesse, die, trotz ihrer Unterschiedlichkeit, zahlreiche Parallelen erkennen lassen. Sie zeigen den Kampf für Gerechtigkeit und Selbstbestimmung, der jüngst in der feministischen Revolution im Iran mündete, den Künstler*innen seit langer Zeit und auch noch bis heute in einer noch immer cis-männlich dominierten (Kunst-)welt regelmäßig führen müssen.

Der Titel der Ausstellung Die unhintergehbare Verflechtung aller Leben bezieht sich auf ein Interview von The Collective Eye mit Judith Butler aus dem KUNSTFORUM International, Band 285, in dem Judith Butler die Notwendigkeit kollektiven Zusammenlebens für Gerechtigkeit in der Gesellschaft hervorhebt.

Die Ausstellung Die unhintergehbare Verflechtung aller Leben stellt sich in eine Reihe von Untersuchungen des Körperlichen und seiner Bedeutung für das Menschsein, denen die Kunsthalle Düsseldorf sich seit mehreren Jahren immer wieder widmet.

Zur Ausstellung erscheint eine deutsch- und englischsprachige Publikation.

Ausstellungsansichten: Katja Illner

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The late 1960s in West Germany were a significant time of political and social unrest, artistic solidarity and experimentation, often combined with anti-capitalist criticism. For Ilse Henin, who studied in those years, it was a formative time. In the late 1970s, however, she took a break from art because - like many of her female colleagues - she felt it was too dominated by men. She returned to artistic work in the 1980s, maintaining a deliberate distance from the art world. It always seemed necessary to her to create an artistic as well as social counterculture within society and to continuously develop a body of work from the position of an outsider that shows her image of society in a very personal way and takes a psycho-analytical view of different cultural expressions. Starting from Ilse Henin's works, a net is woven in the exhibition to the five younger, contemporary positions. The works of Keltie Ferris (* 1977 in Louisville/USA), Ilse Henin (*1944 in Cologne/DE), Hayv Kahraman (*1981 in Baghdad/IRQ), Gisela McDaniel (*1995 in Nebraska/USA), Soraya Sharghi (*1988 in Tehran/IRN) and Emma Talbot (*1969 in London) are united by the interweaving of supposedly classical motifs read as feminine, but they have all developed them into completely different subjects. "Femininity" as a motif is placed in a contemporary context. The woman is no longer a beautiful accessory or projection surface of the male gaze, but the main figure and identity bearer of the work. Women, as individual figures, in groups or as part of a family or tribe, stand up for themselves and for all they represent. They are strong, self-determined heroes of a new narrative of femininity, aware of their position. At the same time, classical notions of femininity and masculinity are questioned.

Materials and techniques often read as "feminine" or "feminine", such as fabric, beads, yarn or sewing, embroidery, collage, are also taken up and placed in a contemporary context. These aesthetics, long degraded as arts and crafts or decorative, are used loudly and exuberantly and with expressive and impulsive colourfulness in an almost pop-like manner.The works of the six artists thus show a processuality that leads the viewer from the 1960s to today, from painting to drawing to sculpture and installation, from femininity to masculinity to diversity. Above all, it is a process of empowerment. In the works themselves, but also in their composition, groups, associations and processes are formed that, despite their diversity, reveal numerous parallels. They show the struggle for justice and self-determination, which recently culminated in the feminist revolution in Iran, that artists have had to wage for a long time and still have to do on a regular basis in a still cis-male dominated (art) world.The title of the exhibition The Inextricable Intertwining of All Lives refers to an interview by The Collective Eye with Judith Butler from KUNSTFORUM International, Volume 285, in which Judith Butler emphasises the necessity of collective living together for justice in society. The exhibition "The Inescapable Interconnectedness of All Lives" is part of a series of investigations into the corporeal and its significance for the human condition to which Kunsthalle Düsseldorf has devoted itself for several years.

A publication in German and English is planned to accompany the exhibition.

Exhibition views: Katja Illner